Das Kind von 3 – 6 Jahren

Die grundlegende Entwicklungsaufgabe des Kindes in seinen ersten sechs Lebensjahren ist, seine Persönlichkeit aufzubauen. Die Zeit von 3 bis 6 Jahren ist keine gesonderte Entwicklungsphase, sondern ein Abschnitt innerhalb dieser ersten Entwicklungsstufe.

Das „soziale Embryo“

Auch wenn es für den Erwachsenen häufig eine Herausforderung ist, so ist die damit verbundene egozentrische Haltung des Kindes in dieser Phase seines Lebens aus seiner Sicht durchaus nachvollziehbar. Gegen Ende seines dritten Lebensjahres wird es jedoch ruhiger und ausgeglichener. Obwohl das dreijährige Kind noch durchaus damit beschäftigt ist, sich selbst aufzubauen, kann es sich nun zunehmend in eine Gruppe integrieren. Montessori bezeichnete das Kind in diesem Alter daher als „sozialen Embryo“: In der geschützten, vorbereiteten Umgebung des Kinderhauses kann es sich langsam aber sicher auf seinen Eintritt in die Gesellschaft vorbereiten.

Das Erwachen des Bewusstseins

Nahm das Kind von Geburt an alle Eindrücke ganz unbewusst, undifferenziert und ganz­heitlich auf, so beginnt es etwa mit drei Jahren, diese Eindrücke zu ordnen und sein Wissen über die Welt zu klären. Hierbei muss es selbst aktiv sein; die Dinge „be-greifen“. Das Kind, so Montessori, wird im Alter von drei bis sechs Jahren vom unbewussten Schöpfer zum bewussten Arbeiter. Montessori stellt fest: „Mit drei Jahren ist es, als ob das Leben von neuem beginne, denn zu diesem Zeitpunkt offenbart sich voll und klar das Bewusstsein.[1]“.

Sensible Phasen

Montessori beobachtete, dass die Entwicklung des Kindes durch besondere sensible Phasen gesteuert wird. Die moderne Gehirnforschung spricht von „kritischen Zeitfenstern“, in welchen das Kind sich einzelnen Entwicklungsaufgaben mit enormer Ausdauer und Konzentration zuwendet. In dieser Zeit lernt es mit Leichtigkeit und enormer Gründlichkeit. Ist diese Phase jedoch vorüber, so ist sie für immer vorbei. Die gleichen Dinge müssen dann mit großer Anstrengung gelernt werden.

Ordnung

Für das Kind im Kinderhaus ist die Ordnung in seiner Umgebung von besonderer Bedeu­tung. Das Kind ist nicht nur in der Lage, diese Ordnung zu einem Teil seiner Persönlichkeit zu machen, sondern ist auf sie angewiesen, um sich zu orientieren und eine innere, mentale Ordnung aufzubauen. Aus diesem Grund üben auch die Aktivitäten mit den Sinnesmaterialien eine besondere Anziehungskraft auf das Kind aus, da sie ihm helfen, die Informationen, die es über seine Sinne aufnimmt, zu ordnen und immer genauer zu unterscheiden.

Bewegung

Bei allen Aktivitäten ist Bewegung im Spiel. Hat das Kind in den ersten drei Lebensjahren gelernt zu krabbeln, laufen, klettern oder hüpfen, so ist es nun daran interessiert, die Bewegungen seiner Hand immer präziser auszuführen und zu steuern. Uner­müdlich und unaufgefordert wiederholt es dieselben Übungen, bis dieses Entwicklungs­bedürfnis befriedigt ist!

Interesse am Schreiben und Lesen

Mit etwa vier Jahren zeigt das Kind großes Interesse an den Schriftzeichen in seiner Umgebung. Die von Montessori entwickelten Sandpapier­buchstaben und –ziffern sind die perfekte Antwort auf diese Sensibilität: Durch Bewegung und über seine Sinne nimmt das Kind die Form dieser Zeichen auf. Viele Kinder lernen auf diese Weise spontan zu schreiben und zu lesen. Weiterhin verfügt das Kind eine besondere Fähigkeit, die Sprachen in seiner Umgebung aufzunehmen und saugt sie ganzheitlich auf, wie ein Schwamm.

Die vorbereitete Umgebung im Kinderhaus ist abgestimmt auf diese sensiblen Phasen und die Entwicklungsbedürfnisse die daraus entspringen.

 


1] Montessori, Maria (1994): Das kreative Kind. Der absorbierende Geist. Freiburg: Herder, S. 148.